Interview mit Ayten Kılıçarslan , Datum: 06.09.2019, Format: Interview, Bereich: Im Dialog

Der Ramadan hat für Muslime eine große Bedeutung. Es ist für viele eine Zeit der Spiritualität und inneren Reinigung. Die Deutsche Islam Konferenz (DIK) sprach mit Ayten Kılıçarslan, der Vorsitzenden des Sozialdienstes muslimischer Frauen e. V. (SmF), über den Fastenmonat.

Frau Kılıçarslan, was ist denn Ihrer Meinung nach das Besondere am Ramadan?

Das äußerlich Sichtbare dieses für Muslime außergewöhnlichen Monats ist natürlich das Fasten. Der Ramadan ist aber viel mehr als die Enthaltsamkeit in dieser Zeit.
Zum einen nennen wir den Ramadan auch "Monat der Barmherzigkeit". Durch das Fasten sich in Bedürftige hineinzuversetzen, Arme zu speisen, zu spenden und dabei durch Spiritualität im Gebet Gott nahe zu sein, dem wir all diese Gaben verdanken – das gehört zum Kern dieses Monats. Die Enthaltsamkeit gilt nicht nur den Speisen, Getränken und dem Geschlechtsverkehr. Die Zähmung von Zorn und Argwohn gehört ebenso dazu wie auch die Versöhnung mit Menschen, mit denen man sich im Streit befindet.

Eine andere Bezeichnung für den Ramadan ist "Herrscher über die anderen elf Monate". Dieser Monat herrscht über die anderen, weil er den gewohnten Alltag des Menschen durchbricht und fordert, seine Prioritäten für diese Zeit im Sinne der Spiritualität anders zu setzen. Indem der Mensch wieder Beherrschung über seinen Körper gewinnt, merkt er, dass nicht jede Tasse Kaffee, die ihn für mehr Leistung aufputschen soll, oder jede Mahlzeit unverzichtbar sind. Es ist gewissermaßen ein Affront gegen die Erfordernisse der Konsum- und Leistungsgesellschaft, die mit den Begriffen Enthaltsamkeit, Spiritualität und innere Einkehr nichts anfangen kann.

Denn Schule und Arbeitswelt fordern unser Funktionieren. So wundert es nicht, wenn es zu Konflikten zwischen Leistungsanspruch und Spiritualitätsbedürfnis kommt. Genau das ist das Besondere in unserer Gegenwart, nämlich sich dieser Herausforderung zu stellen.

Zurzeit gibt es ja wieder eine Debatte über das Fasten an Schulen. Auch Kinder beteiligen sich am Fasten, obwohl sie bis zur Pubertät von dieser Pflicht ausgenommen sind. Woran liegt das und welche Empfehlungen haben Sie für muslimische Eltern von schulpflichtigen Kindern?

Ja, es gibt keine Fastenpflicht für Kinder. Jede muslimische Mutter, jeder muslimische Vater weiß das. Und wer sein Kind dennoch unnachgiebig dazu anhält, das Fasten strikt und durchgängig einzuhalten, dem muss klar gesagt werden, dass er sich außerhalb religiöser Gepflogenheiten bewegt. Doch Eltern mit Gesetzen zu drohen, wenn ihre Kinder fasten, ist absolut überzogen.

Die Auseinandersetzung mit dem Fasten gehört bei muslimischen Kindern zum Erwachsenwerden dazu. Wenn in einer Familie gefastet wird, dann merken die Kinder, dass da etwas Außergewöhnliches im Gange ist. Die Älteren essen und trinken zu ungewöhnlichen Zeiten, stehen vor der Morgendämmerung zu einem Nachtmahl auf, und alle reden über den Ramadan. Kinder sind neugierig, was die Erwachsenen machen, und sie wollen nicht ausgeschlossen sein. Viele wollen mitfasten. Da können die Eltern sagen: „Gut, du bist noch ein Kind und du brauchst nur eine Stunde zu fasten.“ Oder: „Nur bis zum Mittag“ oder „Faste doch die letzten Stunden vor dem Fastenbrechen“. Je nachdem, wie alt das Kind und wie die Situation ist.

Es sind dann aber die Kinder selbst, die die Erwachsenen nachahmen und zeigen wollen, mit welcher Ernsthaftigkeit sie dabei sind, und sie erzählen dann anderen: „Ich muss jetzt auch fasten.“ Man kann nicht von ihnen erwarten, dass sie die erzieherische Milde ihrer Eltern durchschauen. Die Eltern machen sich in der Regel viele Gedanken darum, wie sie Kinder unbeschadet durch diese Zeit bekommen.

Ich würde den Eltern empfehlen, was Generationen vor ihnen auch schon so gemacht haben: Statt an Schultagen können sich die Kinder am Wochenende ausprobieren und stundenweise fasten. Essen und trinken sie trotzdem etwas, sollte man sie trösten, weil sie es sonst selbst als Niederlage empfinden. Es geht ja darum, ihr Selbstbewusstsein zu stärken und ihnen beizubringen, dass sie sich auch für kurze Zeit zurückhalten können.

Und ansonsten würde ich den Eltern empfehlen, ihren Kindern im entsprechenden Alter die anderen positiven Aspekte des Fastens neben dem bekannten Fastengebot nahe zu bringen: barmherzig gegenüber Bedürftigen und Schwächeren zu sein, nicht gleich zornig zu werden, wenn man etwas nicht bekommt, das Teilen einzuüben. Letztlich sollen Kinder lernen, eine höhere Frustrationstoleranz zu bekommen und Rücksicht auf andere zu nehmen.

Und welche Empfehlungen haben Sie für Schulen?

Die Themen Barmherzigkeit, Enthaltsamkeit, Sorge um Bedürftige und Großzügigkeit sind sehr gute Lernthemen – und das nicht nur für den islamischen Religionsunterricht. Den Ramadan können sowohl Pädagogen als auch Eltern gemeinsam nutzen, um mit Kindern über Werte zu sprechen. Hier sollten Schule und Eltern zusammenarbeiten und darauf achten, die Kinder, die eigentlich Orientierung brauchen, nicht dadurch zu verwirren, das sie das Thema Ramadan verkrampft angehen. Kinder sollten in ihrem Bemühen, ihren Platz in Familie und Gesellschaft zu finden, ernst genommen und unterstützt werden.

Was den Leistungsabfall mancher Kinder beispielsweise beim Sportunterricht oder bei der Konzentration angeht, so haben wir es hier natürlich mit einem Dilemma zu tun, dem man aber eher mit Pädagogik als mit Gesetzen beikommen kann.

In der Regel bereitet es gesunden, jungen Menschen, die einen geregelten Alltag haben, kaum Schwierigkeiten zu fasten. In der Schulzeit kann es jedoch in erhöhten Lernphasen und vor allem dann, wenn Prüfungen anstehen, zu Schwierigkeiten kommen. Je früher am Tag Prüfungen stattfinden, desto höher ist noch die Konzentration.

Körperliche Anstrengung, auch Sportunterricht ist möglich, aber vor allem in den Sommermonaten schwierig. Der Schwimmunterricht bringt die besondere Schwierigkeit mit sich, dass Wasser verschluckt werden kann. Dies läuft der Regel, nichts in den Körper einführen zu dürfen, zuwider. Das sind aber keine unlösbaren Probleme. Ich traue hier Lehrern, Eltern und Schülern gemeinsame Lösungen zu.

Kommen wir zu anderen Einrichtungen. Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach der Ramadan in Krankenhäusern und Altenheimen?

Kranke sind vom Fasten befreit. Dennoch kann es sein, dass es für Patienten eine Gewissensfrage wird, wenn sie sich trotz Krankheit in der Lage fühlen zu fasten. Hier hilft sicher eine Aufklärung der Patienten durch Ärzte, ob sie gesundheitlich zum Fasten in der Lage sind oder nicht. Dort, wo die Einsicht fehlt, sich an seinem Genesungsprozess zu beteiligen, indem man auf das Fasten verzichtet, kann es ratsam sein, mit Moscheegemeinden zusammenzuarbeiten. Hartnäckige Patienten sind oft durch Menschen, die keine theologische Ausbildung haben, wenig zu überzeugen. Hier würde ich mir eine gut ausgebildete muslimische Krankenhausseelsorge wünschen. In dieser Frage hat es in den vergangenen Jahren leider in der Fläche nur wenig Fortschritte gegeben. Hier sind wieder die Religionsgemeinschaften gefragt, die gemeinsam mit Krankenhäusern Lösungen suchen sollten. Ein von Muslimen organisierter Besucherdienst in Krankenhäusern wäre auch schon ein hilfreicher Baustein.

Was Seniorenheime angeht, so haben wir hier eine andere Situation. Senioren in Heimen sind keine Patienten, sondern in erster Linie Bewohner. In den überwiegenden Fällen lässt es der Gesundheitszustand nicht zu, dass Senioren fasten. Oft liegen irgendwelche Krankheiten vor, die das Fasten unmöglich machen.

Jene, die körperlich noch in der Lage dazu sind, sind nicht per se vom Fasten befreit. Hier gilt es, sie in ihrer Individualität und in ihrer Selbstbestimmung zu unterstützen und das Fasten zu erleichtern, denn vielen Senioren fällt es schwer, sich vom Fasten zu lösen, wenn sie es ein Leben lang praktiziert haben. Das ist ja auch nicht nötig, wenn sie gesund sind.

Wegen des Tag-Nacht-Rhythmus‘ des Fastens ist dies natürlich eine Herausforderung für die Essensorganisation in einem Seniorenheim. Wenn der Ramadan in die Sommertage fällt, hat die Küche bereits geschlossen, wenn es dunkel ist und das Fasten gebrochen wird. Vom Personal ist dann auch nur noch die Nachtwache da. Hier braucht man eine Lösung für die fastenden Bewohner, die nicht einen Monat lang ohne warme Speisen bleiben können. Auch benötigen sie Speisen, die im Ramadan verträglich und auf eine vollwertige Ernährung ausgerichtet sind. Das bedeutet, Seniorenheime müssen sich auf diese Situation angemessen vorbereiten.

Im Ramadan kann die Einrichtung sich mit einer nahe gelegenen Moscheegemeinde in Verbindung setzen. Es gibt zahlreiche Moscheen, die jeden Tag das Iftar genannte Fastenbrechen anbieten. Die Lieferung muss aber organisiert werden, und eventuelle Diäten gilt es zu berücksichtigen.

Es gibt auch beispielhafte Angebote wie z.B. das der Sozial-Betriebe-Köln. Dort werden muslimische Senioren entsprechend ihrer Herkunftskultur und Gewohnheiten betreut. Die Betreuung läuft in dafür vorgesehenen und an die Zielgruppe angepassten Strukturen.

Ob in Krankenhäusern oder Seniorenheimen, man kann drüber hinaus auch auf die muslimischen Festtage achten. Wenn es keine Angehörigen mehr gibt, kann man vielleicht die Gemeinde auf die Möglichkeit ansprechen, einen Besuchsdienst für Feiertage einzurichten. Das machen Ehrenamtliche oft gern. Auch gibt es immer mehr junge Muslime, die sich für Senioren engagieren wollen.

Das Ende der täglichen Fastenzeit wird mit abendlichem Fastenbrechen und das Ende des Fastenmonats mit einem großen Fest gefeiert. Mittlerweile beteiligen sich daran auch gern Personen anderen Glaubens. Wie beurteilen Sie den sozialen Aspekt des Ramadans?

Der soziale Aspekt ist ein herausragendes Merkmal des Ramadans. Neben Enthaltsamkeit und Spiritualität spielt die Gemeinschaft eine große Rolle. Ob es nun gemeinschaftliche Nachtgebete oder das gemeinsame Fastenbrechen sind, hier greifen uralte Traditionen. In muslimischen Ländern ist es üblich, dass Geschäftsleute, Moscheen oder Privatleute, die etwas Gutes tun wollen, Speisungen sogar auf öffentlichen Plätzen vornehmen, an denen jeder sich einfach mit an den Tisch setzen und essen kann. Ebenso gehören Einladungen zum Fastenbrechen zu Hause zu den Gepflogenheiten im Ramadan. Allerdings fordert der Arbeitsalltag oft seinen Tribut. Die Tage sind lang, und die privaten Einladungen werden oft auf das Wochenende gelegt.

Auch in Deutschland ist das gemeinschaftliche Fastenbrechen inzwischen zu einem festen Ritual geworden. Es ist schön zu sehen, wie gut diese Angebote auch von Nichtmuslimen angenommen werden. Hier kann man jeden dazu ermuntern, einfach mitzumachen.

Mittlerweile organisieren auch öffentliche Einrichtungen in Deutschland solche gemeinschaftlichen Essen. Hier ist ein Stück gelebter Willkommenskultur zu spüren. Das gemeinsame Fastenbrechen verstärkt das Miteinander. Durch ihre Teilnahme signalisieren die Gäste, dass sie Muslime als Teil der Gesellschaft wahrnehmen.

Beim Festtag zum Ende des Ramadans besuchen sich die Familien, die Bekannten und die Freunde, und insbesondere die Kinder werden beschenkt. Viele Muslime gehen dann in Seniorenheime und Krankenhäuser, um Kranke und Alte zu besuchen und so die Barmherzigkeit Gottes sichtbar zu machen. Auch die Flüchtlingsheime werden besucht oder Kindern aus bedürftigen Familien Geschenke gemacht. Für den Ramadan und für Festtage organisieren oder unterstützen unsere Mitgliedsvereine die ehrenamtlichen Paten, um ihre Mentees oder andere Bedürftige zu besuchen oder zu beschenken. Mit den Müttern werden für ihre Kinder Ramadan-Kalender gebastelt.

All dieses soziale Miteinander hilft dem Zusammenleben in einer Gesellschaft der Vielfalt.