Zur religiös motivierten Beschneidung von Jungen und Männern im Islam ,
Die medizinisch fachgerechte Beschneidung von Jungen1 wird nach der traditionellen, bis heute weitestgehend fortgeführten Lehre des Islam zumindest empfohlen und ist fast allgemein üblich. Damit soll der Junge rituell in der islamischen Gemeinschaft sozialisiert werden. Die Eltern haben dabei das Wohl des Kindes im Auge, das eine religiöse Heimat finden soll. Kulturelle Traditionen (zum Beispiel sichtbarer Stolz auf den hinzugekommenen Sohn) oder auch schlichte Konventionen spielen daneben sicherlich auch eine Rolle.
Verankerung der Beschneidung in den islamischen Quellen
Für die sunnitischen Rechtsschulen findet sich eine übersichtliche Zusammenfassung in der umfangreichen Enzyklopädie des Islamischen Rechts, die vom kuwaitischen Ministerium für Stiftungen und Islamische Angelegenheiten herausgegeben wird (*al-Mausu'a al-fiqhiya Band 19, Stichwortartikel "chitan"). Schiitische Quellen vertreten dieselben Ansichten.
In den verschiedenen Schulen gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, ob die (fachgerechte) Beschneidung von Knaben und Männern eine zwingende religiöse Pflicht darstellt oder nur im Sinne eines kultischen Brauchs empfohlen wird. Hierbei unterscheiden sich die jeweils herangezogenen Rechtsquellen.
Begründung in den großen islamischen Rechtsschulen
Die Schafiiten, die meisten Hanbaliten, Schiiten und einzelne malikitische Autoren betrachten die Beschneidung als zwingende religiöse Pflicht (Wadschib) und leiten dies beispielsweise aus dem Koran (Sure 16, 123) ab, die in Hartmut Bobzins Übersetzung wie folgt lautet: "Dann gaben wir Dir ein: ‘Folge der Glaubensweise Abrahams als eines wahren Gläubigen. Und er war keiner der Beigeseller'."
. Ebenso wird dies auf einige Hadithe (Überlieferungen vom Propheten des Islam Muhammad) gestützt, die in dieselbe Richtung weisen.
Die Hanafiten, die meisten Malikiten und eine schafiitische Mindermeinung sowie der Begründer der hanbalitischen Schule nach einer überlieferten Ansicht betrachten die Beschneidung als "Sunna", als kultischen Brauch des Islam, welcher der natürlichen Veranlagung (Fitra) entspricht. Auch wenn sie ihn nicht für unabdingbar halten, so wird er doch als grundlegend wichtig betrachtet. Wenn sich nämlich die Menschen an einem Ort darauf einigten, ihn nicht mehr auszuführen, müsse die Staatsmacht sie dann bekämpfen, ähnlich wie bei der solcherart vereinbarten Aufgabe des Gebetsrufes. Dies zeigt die große Bedeutung des Brauches auch für die Vertreter dieser Schulen.
Der "richtige" Zeitpunkt und Ausnahmen
Ausnahmen werden ausdrücklich dann zugelassen, wenn zum Beispiel die Vorhaut so gering ausgeprägt ist, dass die Beschneidung praktisch schon vorweggenommen ist. Ferner dürfte hier die allgemeine Regel islamischer Normenlehre anwendbar sein, dass unter mehreren Übeln das geringere vorzuziehen ist. Konkret heißt dies, dass von einer Beschneidung abgesehen werden kann, wenn im Einzelfall erhebliche Nachteile wie Erkrankung etc. zu befürchten sind. Diese Abwägung entspricht im Grunde völlig dem Gesetzentwurf für den neuen § 1631 d BGB.
Wer nicht beschnitten ist, verliert deshalb nicht die Zugehörigkeit zum Islam. Dies kann für Jungen vor der Pubertät schon deshalb nicht gelten, weil die religiöse Verpflichtung erst mit der Pubertät eingreift. Die Begründung hierfür wie für die Erforderlichkeit der Beschneidung überhaupt liegt im dann entstehenden Erfordernis der rituellen Reinheit. Für wünschenswert wird allerdings die Ausführung bis zum Erreichen des Alters der beschränkten Geschäftsfähigkeit (Tamyiz) angesehen, weil der Eingriff zuvor leichter in der Durchführung ist. Manche benennen den wünschenswerten Zeitpunkt auch schon mit dem siebten Tag nach der Geburt. Sie stützen sich dabei gleichfalls auf ein entsprechendes Hadith. Andere wiederum halten den Zeitraum zwischen dem siebten und dem zehnten Lebensjahr für den empfehlenswerten, weil dies der Zeitpunkt sei, in dem gewisse religiöse Gebote ihren Anfang nehmen können.
Der Gesetzentwurf §1631d BGB beseitigt Unsicherheiten, die durch das Urteil des Kölner Landgerichts entstanden.
Übrigens hat man sich auch schon frühzeitig Gedanken über Haftungsfragen gemacht: Es scheint Einigkeit darüber zu herrschen, dass ein nicht fachgerechter Eingriff zu Ersatzansprüchen gegen den Beschneider führt. Dies mag mit erklären, weswegen die Beschneidung muslimischer Jungen in Deutschland wohl ausschließlich von Ärzten ausgeführt wird, oft übrigens von jüdischen. Der Islam verlangt keine bestimmte Religionszugehörigkeit des Ausführenden.
Diskussionen über die fortwährende Notwendigkeit der Beschneidung von Jungen werden unter Musliminnen und Muslimen gelegentlich geführt. Intensivere Debatten gibt es darüber, ob die noch häufige Praxis, Jungen erst in vergleichsweise fortgeschrittenem Alter von 7-10 Jahren oder noch später beschneiden zu lassen, angemessen sein kann, oder ob man stattdessen die Prozedur nicht lieber im Säuglingsalter oder in jungen Jahren ausführen sollte, wenn der Eingriff möglicherweise weniger schmerzhaft und belastend ausgeführt werden kann.
Solche Debatten sind dort zu führen, wo sie hingehören: In den Religionsgemeinschaften. Dies verdeutlicht der deutsche Gesetzgeber mit der geplanten Neuregelung in § 1631 d BGB, welche die schon längst bestehende Rechtslage noch einmal verdeutlicht und damit die Unsicherheiten beseitigt, die durch ein wenig überzeugend begründetes Einzelurteil ausgelöst wurden.
Prof. Dr. Mathias Rohe, 29.10.2012
Prof. Dr. Mathias Rohe hat den Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Erlangen-Nürnberg inne und war Teilnehmer der Deutschen Islam Konferenz in der ersten Phase.
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1) Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die meisten Musliminnen und Muslime die Verstümmelung weiblicher Genitalien ablehnen, auch wenn sie in der religiösen Literatur ebenfalls behandelt und nicht selten empfohlen wird. Unabhängig von der religiösen Haltung hierzu könnten derartige massive Eingriffe – und schon das unterscheidet sie grundlegend von der Beschneidung von Jungen – unter keinem rechtlich akzeptablen Gesichtspunkt gerechtfertigt werden. Sie sind vielmehr mit allen rechtsstaatlichen Mitteln zu verhindern.